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Lazarett 3064 in Belovolschsk: Zeitzeugen

Norbert Bundscherer

"Wie's damals war"

Mit großem Interesse habe ich (leider erst vor kurzem) im Internet den Bericht über das Kriegsgefangenenlager "Lazarett 3064 in Belowolschsk" gelesen.

Ich selbst bin am 8.12.1944 dort angekommen und konnte bereits mit dem ersten Transport in Richtung Heimat am 21.7.1945 das Lager verlassen.

Die beiden deutschen Ärzte Siegfried Krause und Bernhard Brummer habe ich noch in sehr guter Erinnerung. Mich hat vor allem Herr Brummer behandelt. Ich habe ihn später noch mehrmals in München besucht, er ist vor ein paar Jahren dort gestorben.

Im übrigen stehen meine Erfahrungen absolut im Gegensatz zu Ihrem Bericht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Obst oder Fleisch gesehen zu haben. Daß das "ganze Lazarett wie eine große Familie lebte" und regelmäßig Konzerte stattgefunden haben sollen, erscheint mir wie ein Hohn: Wir kämpften ums Überleben, hatten ständig ganz schlimmen Hunger und Durst zu ertragen, mußten wegen unserer Schwäche ständig im Bett liegen bleiben (wie Sie richtig schreiben, zu fünft auf zwei Betten). Bei meiner Heimkehr wog ich gerade noch 40 kg.

Ich kann mir nur vorstellen, daß sich entweder im Jahr 1944 die Situation dramatisch verändert hat, oder - wahrscheinlicher - daß der geschönte Bericht vom Bürgernetz Tschuwaschien verfaßt ist.

Übrigens: ich kann mich an keinen Namen von anderen Kriegsgefangenen - verstorbenen oder überlebenden - in diesem Lazarett erinnern.

Zur weiteren Information hier ein Auszug aus meinem eben verfaßten Tagebuch:

Auszug aus dem Tagebuch "Wie's damals war" von Norbert Bundscherer (2005)

Zuletzt war ich in der Lazarettbaracke eines Arbeitslagers.

Am 8.l2.[1944] sollten wir in ein Lazarett verlegt werden. Wir marschierten, besser gesagt, schleppten uns dahin, ich weiß nicht, wie lange, wahrscheinlich einige Stunden. Es herrschte eine extreme Kälte. Unser Weg führte über eine Eisfläche, vermutlich einen Arm der Wolga, aus den Wolken kamen feine Eiskristalle, die uns ein heftiger Wind entgegenschleuderte. Die Bekleidung war armselig. An den Füßen Strohpantoffel, die Füße selbst mit Papier umwickelt, ebenso die Hände. Immerhin gab es wenigstens eine Mütze über die Ohren. Viele erlitten mehr oder weniger starke Erfrierungen, ich selbst bin in dieser Hinsicht glimpflich davongekommen. Bei der Ankunft vor dem Lazarett mußten wir vor dem Tor noch lange warten, man war hier nicht auf so viele Leute vorbereitet. Wir kamen zur Entlausung. Mit dem Wechsel der Kleidung verloren wir die letzten Reste von persönlichen Dingen. Die Nacht war ein Horror: In zwei Entlausungsräumen waren wir bei völliger Dunkelheit zusammengepfercht. Von Hinlegen war keine Rede. Dazu war es viel zu eng, der Boden war naß und es gab nur wenige Bänke. Dazwischen ließ man sich einmal vom Posten die Tür öffnen, um austreten zu können, in Wirklichkeit, um in den anderen Raum zu gelangen. Aber da war es auch nicht besser. Am folgenden Tag wurde uns eröffnet, daß nur die Hälfte der Angekommenen im Lazarett aufgenommen werden könne, die anderen müßten zurückkehren ins Arbeitslager. Das haben sicher manche nicht überstanden. Ich durfte glücklicherweise bleiben. Die Unterkunft war recht primitiv. Da wurden jeweils zwei eiserne Bettgestelle zusammengeschoben, darauf Strohsäcke. Hier mußten wir quer zu fünft liegen. Das war so eng, daß immer einer seine Knie in die Kniekehle des Vordermanns legen mußte. Wenn es mitten in der Nacht einer so nicht mehr aushielt, gab er das Kommando "umdrehen" und alle fünf legten sich auf die andere Seite. Die Verpflegung bestand im wesentlichen aus Brot und Fischsuppe, d.h. einer Brühe, in der vereinzelt Gräten zu finden waren, die wir begierig zerkauten. Ein "Leckerbissen" war es, wenn sich einmal ein Stück Rückgrat in die Suppe verirrt hatte. Noch schlimmer als der Hunger war der Durst. Ein paarmal simulierte ich Sodbrennen. So bekam ich einen Eßlöffel "Bitterwasser", wenigstens eine kleine Anfeuchtung für die Zunge. Ich verstehe schon, warum wir so hungern mußten. Das Personal des Lazaretts hatte sicher auch nicht viel zu essen und nahm deshalb von den uns zustehenden Rationen. Aber warum gab man uns kein Wasser? Wenn wir etwas wollten, hieß es immer nur "sawtra" (morgen), "bolsche njet" (mehr nicht) und "nitschewo" (gibt es nicht).

Die Gespräche kreisten meist um das Essen zuhause. Die einen schwärmten von köstlichen Menüs und feinen Torten, andere von Pellkartoffeln und Quark. Einige bemühten sich, der Langeweile des Alltags etwas entgegenzusetzen. Ein Querschnittsgelähmter - er war mit dem Flugzeug abgeschossen worden - rezitierte Shakespeare. Ein paar Leute versuchten wenigstens ein wenig Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Ich machte mir Vorstellungen über die Zukunft zu Hause, wußte zwar, daß dies alles Illusionen waren, aber es waren wenigstens geistige Betätigungen.

Immer wieder ist einer in der Frühe nicht mehr aufgewacht, gestorben an Unterernährung und Durchfall. Direkt neben mir ist einer angeblich an Tuberkulose gestorben. Als ich mich einmal besonders elend fühlte und zweifelte, ob ich die kommende Nacht noch überstehen würde, gab ich einem Kameraden meine Heimatadresse, damit er allenfalls später meine Mutter benachrichtigen könnte. Dabei wußte ich, daß ich am nächsten Tag in einen anderen Raum verlegt würde. Im Arbeitslager hat ein Mitgefangener, der von unserem Lazarett dorthin zurückgekehrt war, als angeblicher Augenzeuge berichtet, daß ich gestorben sei. Das habe ich nach meiner Heimkehr von einem Kameraden erfahren.

Um die ärztliche Betreuung bemühten sich besonders zwei deutsche Ärzte. Vor allem Dr.Brummer ist mir noch in guter Erinnerung. Er war immer freundlich und kümmerte sich sehr um uns. Aber auch die russische Ärztin hat uns korrekt behandelt. Einmal erhielt ich von ihr oder einer Hilfskraft eine Infusion, vermutlich Traubenzucker. Das war keine Tröpfcheninfusion, wie sie bei uns üblich ist. Mit einer großen Spritze injizierte sie die Flüssigkeit ziemlich schnell in den Oberschenkel, es mag vielleicht ein halber Liter gewesen sein. Der Oberschenkel schwoll stark an, es gab einen heftigen Schmerz, der erst im Laufe von Tagen nachließ. Wenn ich noch in den letzten Jahren manchmal gerade an dieser Stelle ein gewisses Stechen empfand, fragte ich mich, ob da vielleicht noch ein Zusammenhang bestand.

Wiederholt wurden Gerüchte verbreitet. Kameraden, die in der Küche mitarbeiteten, wollten wissen, das Kriegsgeschick habe sich gewandelt, die Flieger, die wir hörten, seien von der deutschen Luftwaffe, neuartige V-Waffen würden bereits Amerika erreichen. Dagegen sagten uns die Russen etwas ganz anderes. So am 20. Juli: Hitler sei beim Attentat getötet worden, wenig später freilich: "noch nicht, aber er wird noch ...". Aber durfte man der russischen Propaganda irgendetwas glauben? Den Gerüchten zwar auch nicht, aber sie gaben doch stets etwas Hoffnung. Auch ich habe mich oft daran geklammert, vielleicht war es sogar fürs Überleben wichtig. Das Kriegsende, der verlorene Krieg, konnte jedoch nicht mehr bezweifelt werden. Und im Juni oder Anfang Juli kamen zu uns Zivilisten aus Ostpreußen, ältere Leute, die hierher verschleppt wurden.

Ganz überraschend erhielten wir schon im Juli 1945 die Mitteilung, daß wir entlassen würden. Vielleicht wurde das Lazarett für andere Zwecke, für zurückkehrende russische Soldaten oder auch für die verschleppten deutschen Zivilisten, benötigt. Unsere Freude war noch recht verhalten, wir waren nicht so ganz sicher, ob nicht noch etwas dazwischenkommen könnte. Erst wenn wir zuhause angelangt wären, könnten wir uns ganz frei fühlen. Aber auch die Strapazen der bevorstehenden Reise waren nicht zu unterschätzen. Leider kamen nicht alle aus dem Lazarett mit auf den Transport. Wahrscheinlich nur diejenigen, die, wie ich, einerseits transportfähig waren (der Querschnittsgelähmte konnte nicht mitfahren), andererseits sich in einem so schlechten Zustand befanden, daß sie nie mehr in einem Arbeitslager eingesetzt werden konnten.

Am 21.Juli [1945] wurden wir eingekleidet, dann ging es zum Bahnhof.

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